Beim letzten Mal haben wir uns mit dem Ich-Erzähler beschäftigt. Die Erzähler-Krähe sitzt hierbei direkt im Kopf des Protagonisten und verschmilzt mit ihm. Wenn Sie den ersten Teil dieses Artikels noch nicht gelesen haben, finden Sie ihn hier.

Wie wir gesehen haben, bietet die Ich-Perspektive so einige Besonderheiten. Und wie jede Erzählweise hat sie natürlich auch ihre Vor- und Nachteile. Schauen wir uns heute doch einmal an, was der Ich-Erzähler besonders gut kann, was er nicht kann und worauf Sie beim Schreiben achten müssen.

Illustration einer Ratte von hinten
Ratten-Fakt

Ratten wurden in der Literatur früher hauptsächlich negativ dargestellt. Eine der ersten positiven Rollen für eine Ratte schrieb Kenneth Grahame in seinem Buch Der Wind in den Weiden.

Vorteile der Ich-Perspektive

Diese Perspektive …

… schafft besonders viel Nähe. Vor allem im Präsens fühlt sie sich an, als sei der Leser selbst dabei.

… erleichtert dadurch die Identifikation mit der Erzählerin.

… fühlt sich für viele Autoren natürlich an, da wir auch abseits des Schreibens in der Ich-Perspektive erzählen.

… ist nicht so anfällig für ungewollte Perspektivbrüche, da immer klar ist, was wir wissen und was wir nicht wissen können.

… kann die Spannung fördern, da die Leserin nur weiß, was der Protagonist schon erfahren hat.

Nachteile und Gefahren

  • Der Ich-Erzähler kann nur beschreiben, was er selbst erlebt, gehört oder gelesen hat. Er muss in jeder Szene anwesend sein.
  • Sie können daher nur einen Erzählstrang verwenden. Somit sind Cliffhanger, bei denen die Leserin mehrere Kapitel warten muss, bevor es mit dieser Perspektive weiter geht, nicht möglich. (Es sei denn, Sie wechseln den Ich-Erzähler mit einer anderen Perspektive ab. Diese Möglichkeit beschreibe ich in einem zukünftigen Artikel.)
  • Als Autorin müssen Sie darauf achten, dass nicht jeder Satz mit „Ich“ anfängt. Das macht den Erzähler unsympathisch und den Text monoton. Richten Sie den Fokus daher auf das Erlebte, auf das, was im Außen passiert.
  • Es gehört einiges an Geschick dazu, dem Leser das Aussehen der Protagonistin zu spiegeln. Vermeiden Sie unbedingt Dinge wie den Blick in den Spiegel oder Dialoge wie: „‚Deine blonden Haare sind heute wieder so schön‘, sagte Mona.“ Auch der Name des Protagonisten muss von außen kommen.
  • Sie laufen in dieser Perspektive leicht Gefahr, in innere Monologe zu verfallen. Achten Sie darauf, dass der überwiegende Teil der Handlung im Außen stattfindet.
  • Eins ist bei fast allen Ich-Erzählungen klar: Die Protagonistin wird überleben. Das kann einen Teil der Spannung zerstören.
  • Die Erzählstimme muss sitzen – wenn die Stimme nicht gut umgesetzt ist, verliert Ihr Erzähler an Glaubwürdigkeit.
  • Emotional sehr aufwühlende Themen können in der Ich-Perspektive für manche Leser zu intensiv sein.

Wofür eignet sich diese Perspektive?

Der Hauptvorteil des Ich-Erzählers ist das hohe Maß an Nähe, das er zum Leser herstellt. Besonders Teenager wollen sich stark mit den Protagonisten identifizieren. Sie wollen für eine Weile in eine andere Person eintauchen – diese Person sein. Daher sind viele Young-Adult-Romane heute in der Ich-Perspektive geschrieben.

Gut geeignet ist der Ich-Erzähler vor allem für Geschichten, bei denen der Charakter einer Person eine größere Rolle spielt als der Plot oder bei der die Gefühle des Protagonisten besonders wichtig sind. Für eine storyfokussierte Geschichte sind Sie ggf. mit einem drittpersonalen oder auktorialen Erzähler besser bedient.

Kurz zusammengefasst, eignet sich die Ich-Perspektive besonders für:

  • charakterfokussierte Geschichten
  • YA
  • Romance
  • Thriller
  • Briefromane
  • Humorvolle Texte

Bevor ich Sie heute entlasse, soll es natürlich wieder einen Beispieltext geben: Unsere Geschichte von der Leiche in der Kirche.

Es war unheimlich in der Kirche. So richtig duster, und ich musste erst einmal stehen bleiben, bis sich meine Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten. Erst nach ein paar Sekunden konnte ich erkennen, dass weiter hinten in der Mitte Kerzen brannten. Sie leuchteten dieses Pult von unten an, auf dem der Pfarrer immer seine Reden hält. Es sah echt creepy aus. Wie so ein Wasserspeier auf einem Hochhaus in New York oder so mit seiner gruseligen Fratze. Ich musste mich schütteln.
Draußen fuhr ein Auto vorbei. Mit den Augen folgte ich dem Scheinwerferlicht an der Wand entlang. Aber dann war es auch schon vorbeigefahren und alles war wieder dunkel.
Ich weiß auch nicht, was mich dazu brachte, trotz aller Angst weiterzugehen. Ich setzte einfach einen Fuß vor den anderen und ging weiter diesen Mittelgang entlang.
Weiter hinten, da wo sich bei einer Kirche die Gänge kreuzen, lag etwas am Boden.
Ich bekam eine Gänsehaut, aber irgendwie schaffte ich es trotzdem, langsam weiterzugehen. Ich musste einfach wissen, ob Ben die Wahrheit gesagt hatte.
Plötzlich kam von der Seite ein Knarren. Ich hielt den Atem an und versuchte, in der Dunkelheit etwas zu erkennen. Die Gänsehaut ging mir inzwischen bis unter die Füße und es hätte mich in diesem Moment echt nicht gewundert, wenn gleich ein Vampir aus der Dunkelheit auf mich zugesprungen wäre.
Aber da war nichts zu sehen. Und das Geräusch wiederholte sich auch nicht. Also atmete ich zweimal tief durch und ging langsam weiter.
Und irgendwann war ich nah genug dran, um zu erkennen, dass das Etwas, das da am Boden lag, die Größe eines Menschen hatte. Und die Form eines Menschen hatte es auch.
Ich wollte nur noch weg. Aber irgendwas trieb mich an, weiterzugehen. Irgendwas in mir war neugierig, und die Neugier war sogar noch größer als meine Angst.
Da lag ein Mensch, genau wie Ben gesagt hatte. Um ihn herum war es dunkel auf dem Boden, wie eine Pfütze, die ein bisschen im Kerzenlicht glänzte.
Kurz dachte ich darüber nach, wegzurennen. Scheiß auf Ben. Scheiß auf alles. Ich wollte nur noch weg.
Aber dann würde ich es nie wissen. Dann würde ich mich immer fragen, ob doch alles nur ein Scherz gewesen war.
Ich ging in die Hocke runter und sah mir das dunkle Zeug am Boden an. Blut. Oder zumindest sollte es Blut darstellen. Aber wie hätte Ben das so gut hinbekommen sollen? Es gab nur eine Möglichkeit, herauszufinden, was hier wirklich los war.
Beim ersten Versuch konnte ich meine Hand nicht dazu bringen, die Person zu berühren.
Du kannst das, Marita!
Und dann tat ich es einfach. Ich berührte den Arm des Menschen, der dort vor mir lag.
Er war kalt.
Ich zog ich meine Hand so schnell zurück, als wäre gerade ein Skorpion über meine Finger gelaufen.
Tot! Der Mann ist tot! Ich muss hier weg!
Schnell sprang ich auf und drehte mich zur Tür um. Ich wollte nur noch raus hier. Und natürlich war ich kurz davor, zu heulen.
Aber plötzlich blitzte etwas Helles vor mir auf. Es war so grell, dass ich kurz gar nichts mehr sehen konnte. Dann ein zweites Mal.
Ich hob die Arme vor die Augen, aber es war zu spät. Wie blind stand ich da.
Und dann war da auf einmal dieser Mann vor mir. Er hatte eine große Kamera in der Hand. So eine, wie sie Reporter im Fernsehen immer dabeihaben. Und er grinste mich an.
Was ist? Warum grinst der so? Findet der das witzig? Ist das doch alles nur ein Scherz?
Ich verstand echt nur Bahnhof. Aber dann, ganz langsam, wurde mir klar, wie das hier für ihn aussehen musste.
Der denkt, dass ich …
Mir wurde übel. Am liebsten hätte ich dem Typen auf die Füße gekotzt.
Ich musste ihm klar machen, dass er sich irrte. Dass Ben die Leiche schon vor einer Stunde entdeckt hatte.
Aber aus meinem Mund wollten einfach keine Worte kommen. Es klang eher wie das Krächzen eines Raben. Und zu allem Überfluss musste ich jetzt wirklich noch flennen.
Reiß dich zusammen, Marita! Du Heulsuse!
Verdammt. Was sollte ich jetzt bloß machen?

Wie hat Ihnen diese Erzählweise gefallen? Im Vergleich zu der gleichen Geschichte aus der drittpersonalen Perspektive, erfahren wir hier deutlich mehr über Maritas Gefühle. Wir sind in ihrem Kopf und bekommen alles hautnah mit. Auch ihre Gedanken werden uns sozusagen im Live-Stream übermittelt. Das muss nicht immer sein. „‚Warum grinst der so?‘, dachte ich.“ Ist durchaus auch eine Möglichkeit, Maritas Gedanken wiederzugeben. Aber hier habe ich die direkteste Form gewählt. (Es hat sich übrigens als sinnvoll erwiesen, Gedanken, die nicht durch eine Inquitformel – er sagte, sie dachte – als solche gekennzeichnet sind, kursiv zu schreiben. Klare Regeln dazu gibt es allerdings keine und letztendlich bleibt es Ihnen überlassen, wie Sie das handhaben möchten.)

Haben Sie auch bemerkt, dass ich hier viel mehr Absätze eingefügt habe als in den anderen Versionen? Das ist durch Maritas Gemütslage bedingt. Sie hat Angst, sie atmet schnell. Und die Absätze kommen auch schnell.

Noch eine Frage an Sie: Wie schätzen Sie Marita jetzt ein? Ist sie in Ihren Augen jünger geworden als in den vorigen Versionen dieser Geschichte? Was hätte ich anders schreiben müssen, wenn Marita eine dreißigjährige Anwältin wäre? Ich freue mich auf Ihre Vorschläge.

Kategorien: Kreatives Schreiben

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