Wir haben beim letzten Mal die personale Perspektive in der dritten Person (er/sie) beleuchtet – das heißt, die Geschichte wird aus der Perspektive eines der Charaktere erzählt. Nun kommen aber in den meisten Geschichten mehrere Charaktere vor, so dass wir uns wohl oder übel entscheiden müssen, wer sich am besten zum Erzähler eignet.

Egal, ob sie aus der Perspektive nur eines Charakters schreiben, oder ob Ihre Geschichte multiperspektivisch erzählt wird (also von wechselnden Erzählern – siehe dazu Teil 1) oder sogar von einem Ich-Erzäher: Es stellt sich die Frage, auf wessen Schulter (oder in wessen Kopf) sich die Krähe denn nun am besten niederlässt. Schreiben Sie aus der Sicht einer einzigen Person, so müssen Sie diese eine Perspektive natürlich die gesamte Geschichte über einhalten – da will es wohl überlegt sein, wen Sie als Perspektivträger auswählen möchten. Aber auch bei einer Multiperspektive sollten Sie vor jeder neuen Szene überlegen, wer diese am besten erzählt.

Illustration einer Ratte von hinten
Ratten-Fakt

In Indien gilt die Ratte als Symbol für Intelligenz.

Schreiben Sie beispielsweise einen Krimi, wird der Leser ein völlig anderes Leseerlebnis haben, je nachdem, ob er die Geschichte aus der Sicht des Täters, des Opfers oder der ermittelnden Personen erlebt. Tatsächlich kann man sich sogar fragen, ob ein Krimi aus Sicht des Opfers überhaupt noch ein Krimi ist. Vielleicht handelt es sich bei Ihrer Geschichte ja doch eher um einen Thriller. Denn es macht einen großen Unterschied, ob die Kommissarin erst nach einem Raubüberfall den Tatort besichtigt oder ob wir die eigentliche Tat aus der Perspektive des Opfers miterleben, seine Angst mitfühlen können. Und aus der Sicht des Täters erzählt mag die Geschichte vielleicht sogar eher ein Psychoportrait eines Serienkillers sein.

Aber auch eine Familiensaga wird unterschiedlich ausfallen, je nachdem, wer sie erzählt. Denn jeder Charakter hat seine eigene Geschichte, von der er geprägt worden ist. Und daraus resultieren unterschiedliche Gefühle, verschiedene Interessen und jeweils eine eigene, spezielle Sichtweise.

Ein Beispiel:

Wir betreten als Krähe auf der Schulter des Erzählers das Zimmer eines alten Hippies, der mit 50 Jahren noch bei seiner Mutter wohnt. Je nachdem, auf wessen Schulter wir sitzen, werden wir dabei völlig unterschiedliche Dinge wahrnehmen.

Ist unser Erzähler ein Musikfan, wird ihm vielleicht zu allererst die riesige Schallplattensammlung des Hippies ins Auge fallen. Lauter alte Bob-Dylan- und Grateful-Dead-Scheiben in Erstpressung. Ihm wird vor Neid die Kinnlade herunterklappen.

Die Mutter des Hippies wird stattdessen entnervt feststellen, dass ihr Sprössling es schon wieder versäumt hat, aufzuräumen. Sie wird die Klamotten sehen, die auf dem Fußboden herumliegen, die Teller mit halbvergammeltem Essen von letzter Woche und die durstig wirkenden Pflanzen, die schon seit einem Monat nicht mehr gegossen worden sind. Sie hätte ihn spätestens mit 30 vor die Tür setzen sollen!

Betreten wir jedoch auf der Schulter einer Polizistin den Raum, sehen wir als erstes die Bong und die Tabakkrümel, die sich auf dem Tisch befinden. Und natürlich die Fahne an der Wand mit dem großen Hanfblatt darauf. Volltreffer.

Sie haben die Wahl

Jede dieser Personen legt also ihren Schwerpunkt auf völlig unterschiedliche Dinge – und wird selbstverständlich andere Gefühle zu dem Erlebten haben. Und wie unser Erzähler die Szene wahrnimmt, entscheidet in hohem Maße auch darüber, was man später beim Lesen der Szene fühlen oder denken wird.

Überlegen Sie daher, was Ihnen wichtig ist. Was wollen Sie erzählen? Was soll der Leser wahrnehmen und fühlen? Welcher Charakter kann diese Gefühle beim Leser am besten auslösen?

Interessant ist aber auch, was die unterschiedlichen Charaktere wissen. Kommt in Ihrer Geschichte zum Beispiel ein Geheimnis vor, das der Leser erst am Ende erfahren soll, ist es in der Regel von Vorteil, wenn der Erzähler dieses Geheimnis ebensowenig kennt. Sicher, es ist nicht unmöglich, das Buch aus der Perspektive des Geheimnishüters zu schreiben, aber es erschwert uns die Arbeit auf jeden Fall. Andererseits kann natürlich gerade das den Reiz unserer Geschichte ausmachen.

Wir sind es außerdem gewohnt, dass aus der Sicht des Protagonisten erzählt wird, also aus der Perspektive der Person, um deren Erlebnisse es sich in unserer Geschichte dreht. Doch auch das ist kein absolutes Muss. Herman Melville hat uns mit Moby Dick auf über 600 Seiten bewiesen, dass es auch anders geht. Dennoch wird die Faustformel Erzähler = Protagonist sicher vor allem für Anfänger die einfachere Alternative darstellen.

Also: Wessen Geschichte wollen Sie erzählen? Wer durchlebt im Laufe des Romans die größte Transformation, den größten inneren Wandel? Und bei einer Multiperspektive: Aus wessen Sicht ergibt diese Szene am meisten Sinn? Mit wessen Sichtweise bekommt der Leser genau die Information, die er in diesem Moment bekommen soll?

 

Sie erinnern sich sicher noch an die Geschichte mit Marita, die in der Kirche eine Leiche findet. Wie würde die gleiche Szene wohl aus der Sicht des Reporters aussehen? Probieren wir es doch einfach einmal aus:

 

In der Kirche war es fast vollständig dunkel. Zu dunkel für ein vernünftiges Foto. Raimund ließ die Seitentür leise ins Schloss fallen. Dann öffnete er seine Fototasche und holte den Blitz heraus. Während er ihn auf die Kamera steckte, gewöhnten sich seine Augen allmählich an die Dunkelheit.
Die Luft in der Kirche wirkte leicht rauchig und es gab jede Menge Kerzenleuchter aus Metall. Er würde mit dem Blitz aufpassen müssen, damit die Spiegelungen die Sicht auf sein Motiv nicht verdeckten.
Noch wusste er allerdings überhaupt nicht, ob es ein Motiv geben würde. Er war immer noch nicht sicher, ob er dem Informanten vertrauen konnte oder nicht. Nun ja, er würde es gleich erfahren. Es war genau zwölf Minuten nach zehn. Noch drei Minuten.
Raimund stellte sich hinter die Figur irgendeines Papstes, dessen Arm erhoben war, wie um die Gemeinde zu segnen. Der Stein fühlte sich kühl an.
Nichts passierte. Viertel nach. Zwanzig nach. Raimund sah immer wieder auf seine Uhr. Vermutlich hatte der Informant sich einen Spaß mit ihm erlaubt. Oder hätte er sich vielleicht etwas besser umsehen sollen? Verdammt!
Raimund klappte seine Fototasche zu. Die Kamera behielt er in der Hand. Dann schlich er sich an der Wand entlang in Richtung des großen Haupteingangs.
Ein leises Klacken ließ ihn aufhorchen. Raimund duckte sich in eine Bankreihe und versuchte, nicht zu laut zu atmen. Die schwere Tür am Ende des Mittelschiffs öffnete sich und fiel kurz darauf wieder ins Schloss.
Verdammt. Aus seinem Versteck heraus konnte er nichts sehen. Aber er konnte Schritte hören. Zaghafte, leichte Schritte.
Er wagte es kaum, sich zu bewegen. Als die Schritte leiser wurden, richtete er sich vorsichtig auf und spähte durch die Dunkelheit zum Mittelgang. Ja, dort bewegte sich eine Figur in Richtung Apsis. Es schien eine Frau zu sein. Sie schaute sich immer wieder um, als habe sie Angst, entdeckt zu werden.
Raimund kletterte so leise wie möglich wieder aus der Bankreihe heraus. Trotzdem schien die Frau ihn gehört zu haben, denn sie drehte sich in seine Richtung. Er duckte sich zwischen Wand und Bankreihe. Hatte sie ihn gesehen? Aber kurz darauf konnte er wieder Schritte hören, die sich von ihm wegbewegten.
Er schlich er sich mit geducktem Körper wieder an der Wand entlang, zurück in Richtung der Seitentür. Die Frau musste jetzt an der Vierung angekommen sein, doch er wagte es nicht, sich zu erheben, bevor er die letzte Bank passiert hatte. Dann kroch er von Säule zu Säule immer näher an die Mitte der Kirche heran.
Er lugte hinter seiner Säule hervor und sah die Frau, die sich über etwas beugte. Ein Mensch?
Sein Informant hatte nicht zu viel versprochen.
Vorsichtig schlich sich Raimund näher heran.
Die Frau berührte die Person am Boden. Dann stieß sie eine Art erstickten Schrei aus und richtete sich wieder auf.
Raimund hob die Kamera ans Auge. Noch nicht … warten … jetzt! Er drückte auf den Auslöser.
Das war er. Der Schuss seines Lebens!
usw.

Aber fragen Sie sich nicht auch, wer nun eigentlich den Mann umgebracht hat? Vielleicht ist der Mörder ja sogar noch in der Kirche! Und vielleicht ist das ja in Wirklichkeit seine Geschichte. Etwa so:

Vlad richtete sich auf und hob die Nase in die Luft. Tatsächlich. Noch ein Mensch. Heute war wirklich seine Nacht! Er konnte das Blut des Mannes noch immer auf seiner Zunge schmecken, und doch schien es, als würde er heute noch einen zweiten Leckerbissen serviert bekommen.
Er erhob sich aus seinem Sarg, schwebte zum Ausgang der Gruft und schwang sich mit einem einzigen Flügelschlag hinauf zu seinem Lieblingskronleuchter. Dann beäugte er das Menü.
Ein Mann war offenbar gerade zur Seitentür hereingekommen und fummelte an einer Apparatur herum, die er bei sich trug. Perfekt!
Gerade wollte sich Vlad auf ihn stürzen, da richtete sich der Mann wieder auf.
Mist!
Die Apparatur hatte eins von diesen Blitzdingern.
Vlad überlegte, was er tun sollte. Sollte er den Angriff wagen? Seine Augen taten noch immer von dem letzten Blitzding weh, das er abbekommen hatte, und das war mindestens 45 Jahre her! Unschlüssig blieb er auf seinem Kronleuchter sitzen. Es würde sicher nichts schaden, den Mann erst einmal ein wenig zu beobachten.
usw.

Fragen Sie mich bitte nicht, warum der Mann in einer Blutlache liegt, wenn er von einem Vampir ausgesaugt wurde. Das müsste ich mir jetzt selbst noch überlegen.  🙂

Der Punkt ist: Jede Figur erlebt die Szene in einem ganz anderen Licht, und eine von ihnen braucht noch nicht einmal Licht, sondern fürchtet sich davor. Also: Welche Geschichte wollen Sie erzählen? Welche Ihrer Figuren kann das am besten für Sie tun? Experimentieren Sie doch einfach einmal.

Kategorien: Kreatives Schreiben

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