„Du gehst durch einen dunklen Wald. Laub raschelt unter deinen Füßen, Äste knacken, wenn du darauftrittst, und zu deiner Linken blicken dich zwei funkelnde Augen aus dem Dickicht an.” Was sich wie ein Ausschnitt aus einem Rollenspiel à la „Das schwarze Auge” liest, kann durchaus auch im Roman zum Einsatz kommen. Die Du-Perspektive ist exotisch, ungewohnt und effektiv.

Bisher haben wir uns in dieser Reihe mit den klassischen Erzählperspektiven beschäftigt, in denen uns zum Beispiel ein allwissender oder ein Ich-Erzähler die Geschichte präsentiert. Nun möchte ich zum Abschluss meiner Reihe zu den Erzählperspektiven noch auf eher ungewöhnliche Perspektiven eingehen. Und den Anfang soll heute der Du-Erzähler machen.

Ein Du-Erzähler? Was soll das denn sein?

„Ich schaue sie ungläubig an und muss kichern.” „Sie lenkte den Wagen geschickt um die Hindernisse herum.” Sätze wie diese sind wir aus Romanen gewohnt. Bei „Du gehst durch einen dunklen Wald” dürften die meisten von uns jedoch erst einmal stutzig werden. Nur wenige Romane sprechen über ihre Protagonisten im Du. Dabei hat das durchaus seinen Reiz, denn dadurch machen wir die Leserinnen zu Mitwirkenden im Buch. Du, der Leser, gehst also durch den dunklen Wald. Du, die Leserin, hörst das Laub, das unter deinen Füßen raschelt.

Illustration einer Ratte von hinten
Ratten-Fakt

Die meisten Rattenarten fürchten Menschen und leben in Wäldern.

In der Du-Perspektive ist der Leser selbst der Protagonist der Geschichte. Sie als Autorin erzählen ihm, was er erlebt, spürt und denkt. Das schafft einerseits große Nähe zur Geschichte, denn für die Leser kann es sich, wenn Sie Ihren Job gut gemacht haben, anfühlen, als wären sie selbst in die Handlung involviert.

Andererseits schafft das Du gleichzeitig eine Distanz. Denn wo ein Du ist, das die Dinge erlebt, muss es auch ein Ich geben, das dem Du gerade erzählt, was es erlebt. Der Erzähler wird hier also sichtbarer als in den meisten anderen Perspektiven und die Leserin wird mitunter immer wieder daran erinnert, dass sie gerade eine Geschichte liest.

Mit dem Du können Sie Ihre Leser in die Geschichte hineinsaugen, können sie alles hautnah miterleben lassen. Und die Leser können mehr noch als bei der Ich-Perspektive so tun, als ob sie selbst gerade im dunklen Wald gehen. Sie können in dem Roman mitwirken, auch wenn sie keinen Einfluss darauf haben, was als nächstes geschieht.

Dabei ist es übrigens nicht wichtig, ob der Leser wirklich mit „Du” angesprochen wird, oder aber mit „Sie” oder, was vor allem bei historischen Texten eine Alternative darstellen könnte, mit „Ihr”.

Echte oder falsche Du-Perspektive

Die wirkliche Du-Perspektive liegt nur dann vor, wenn das „Du“ ein handelnder Charakter im Buch ist, wenn also der Leser zum Protagonisten wird. Wird die Leserin jedoch direkt angesprochen und zum Beispiel um ihre Meinung gebeten, ist das normalerweise eher ein auktoriales Erzählen mit Durchbrechen der Vierten Wand. (Zur Erinnerung: Die Vierte Wand ist im Theater die unsichtbare, gedachte Wand zwischen den Schauspielern und dem Publikum, sozusagen der Fernsehbildschirm. Mehr dazu hier.)

Die Brenner-Krimis von Wolf Haas sind zum Beispiel in letzterer Form geschrieben:

Der Schitourismus hat nach dem Krieg den Wohlstand nach Zell gebracht. Mit dem Schnee ist auf einmal das Geld am Boden gelegen. Aber natürlich, zu faul zum Bücken und Aufheben darfst du auch nicht sein.
Wenn du dir zum Beispiel die Liftsteher anschaust. Die müssen den ganzen Tag nur aufpassen, daß ihnen keiner aus dem Lift herausfällt.

(Wolf Haas, Auferstehung der Toten, Rowohlt Taschenbuch, 1996)

Hier wird die Leserin zwar angesprochen, als stünde der Autor vor ihr, aber sie spielt nicht selbst in der Geschichte mit. Sie ist nur die Empfangende der Geschichte.

Anders sieht es aus in „Das Glück der anderen” von Stewart O’Nan:

Du arbeitest gern für dein Geld, aber wenn man dich braucht, ist immer ein Unglück im Spiel, so oder so. Leichen zu bestatten ist kein Problem; nur die Arbeit als Polizist ist anstrengend. Wenn man in beiden Funktionen gebraucht wird, kann es einem zu viel werden, doch seit deiner Rückkehr ist das erst einmal vorgekommen.
[…]
Bitsi packt dich am Bein, zerrt an deinem Arm, so außer Atem, dass sie zunächst kein Wort hervorbringt. «Pa hat gesagt, du sollst kommen. Ganz schnell.» «Sachte, sachte», sagst du. Es kann sich um alles Mögliche handeln.
(Stewart O’Nan, Das Glück der anderen, Rowohlt 2001, übersetzt von Thomas Gunkel)

Hier schlüpfen wir als Leser selbst in die Rolle des Leichenbestatters slash Sherrifs.

Ein weiteres Beispiel für eine echte Du-Perspektive ist “Halbschlaf im Froschpyjama” von Tom Robbins (Rowohlt Taschenbuch, 1998). 

Vorteile der Du-Perspektive

Eines steht schon von vorneherein fest: Mit der Du-Perspektive wird Ihr Buch auffallen. Sie haben sich mit der Wahl des Erzählers eines Exoten bedient, dem die meisten Leserinnen vermutlich noch nie begegnet sind.

Die Du-Perspektive kann, wenn sie gut geschrieben ist, maximale Nähe zum Leser erzeugen, denn dieser kann die Handlung intensiv erleben, als wäre er selbst dabei. Die Leser werden in den Roman hineingezogen und können sich stark mit dem Charakter, den sie ja selbst „spielen“, identifizieren.

Nachteile der Du-Perspektive

„Wenn sie gut geschreiben ist“, habe ich oben gesagt. Und das ist auch gleich einer der Knackpunkte. Denn die Du-Perspektive ist nicht leicht zu schreiben. Sie verzeiht Perspektivbrüche nicht und kann, wenn man es falsch macht, unglaubwürdig wirken.

Und selbst, wenn man es richtig macht, ist diese Erzählweise nicht für alle geeignet, auch nicht für diejenigen, die sie lesen sollen. Sie stellt hohe Ansprüche an die Leserinnen und lässt sie schnell ermüden. Wirklich: Das Lesen der Du-Perspektive strengt an!

Da wir diese Erzählweise nicht gewohnt sind, tun sich außerdem viele Menschen schwer damit, überhaupt in die Geschichte einzusteigen. Sie legen das Buch dann vielleicht schon allein wegen der Perspektive zur Seite, ohne der Handlung eine Chance zu geben. Oder sie reagieren mit Unglauben auf Sätze wie „Kaffee ist dein Lebenselixier“ oder „Du wirfst deine blonden Haare zurück“. Hier werden sie jedes Mal daran erinnert, dass sie eben doch nicht mit dem Protagonisten identisch sind, vor allem, wenn sie Kaffee nicht ausstehen können und kurze, schwarze Haare haben.

Und zu guter Letzt wissen leider auch Verlage, dass die Du-Perspektive nicht jedermanns Sache ist. Und so dürften mit einem Du-Roman Ihre Chancen, einen Vertrag für Ihr Buch zu ergattern, erheblich schrumpfen. Das bedeutet allerdings nicht, dass Sie es nicht versuchen sollten. Wenn Sie denken, dass Ihre Geschichte von dieser Perspektive profitieren kann – nur zu! 

Wofür eignet sich diese Perspektive?

Aufgrund der großen Nähe zum Geschehen eignet sich die Du-Erzählweise vor allem für spannende Thriller und actionreiche Bücher. Aber auch humorvolle Inhalte kann diese Perspektive unterstützen. Und nicht zuletzt könnte ich mir gut einen packenden Coming-of-Age-Roman im Du vorstellen.

Lektoratten-Tipps fürs Erzählen in der Du-Perspektive

Da die Du-Perspektive Ihre Leser im Allgemeinen anstrengen wird, kann es sinnvoll sein, nicht den ganzen Roman im Du zu schreiben. Beschränken Sie sich auf einzelne Abschnitte oder Kapitel, das werden auch die Leserinnen durchhalten, die dieser Perspektive eher abgeneigt sind.

Wenn Sie jedoch ihr ganzes Buch in der Du-Perspektive schreiben möchten, beschränken Sie sich auf einen einzelnen Du-Protagonisten. Ein multiperspektivisches Du ist für die Leser einerseits unglaubwürdig. Denn sie selbst schlüpfen ja beim Lesen in die Rolle des Protagonisten – sie sind der Protagonist. Und da ist es schon seltsam, wenn sie im nächsten Kapitel plötzlich ein ganz anderer Mensch sein sollen.
Außerdem wird es im multiperspektivischen Du schnell verwirrend. Denn wenn der Protagonist keinen Namen hat, sondern immer nur „Du“ genannt wird, ist es schwer zu erkennen, um welchen Charakter es sich gerade handelt.

Und zu guter Letzt können Sie Ihren Lesern den Einstieg in diese neuartige Perspektive erleichtern, indem Sie sie zu Anfang der Geschichte in Situationen schicken, die die Leser kennen oder doch zumindest nachvollziehen können – egal, ob es sich hierbei um bekannte Situationen oder Gefühlslagen handelt.

Sie haben gesehen: Die Du-Perspektive ist nicht ohne Tücken aber auch nicht ohne Reiz. Denn sie hat einiges zu bieten, vor allem wenn Sie Ihren Leserinnen einmal etwas ganz anderes vorsetzen wollen. Probieren Sie es doch einfach einmal aus! Erinnern sie sich an Marina in der dunklen Kirche? Schreiben Sie diese Szene ins Du um. Wenn Sie sie mir als Kommentar schicken, werde ich sogar meinen Senf dazu abgeben.

Kategorien: Kreatives Schreiben

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