Beim letzten Mal haben wir uns der neutralen Erzählperspektive gewidmet. Heute möchte ich mich einen Schritt näher an das Geschehen heranwagen und den auktorialen oder allwissenden Erzähler beleuchten.

Illustration einer Ratte von hinten
Ratten-Fakt

Junge Wanderratten verlassen ihr Nest schon mit 22 Tagen.

Der Erzähler als Krähe

Falls Sie den vorigen Teil dieser Reihe zum neutralen Erzähler nicht gelesen haben, hier noch einmal zum Verständnis:

Stellen Sie sich den Erzähler als eine Krähe vor, die dem Leser die Geschichte übermittelt. Diese Krähe sitzt entweder ganz nah bei Ihren Protagonisten oder schwebt weit über der Szene und hat alles im Blick. Je nachdem, was sie von ihrem Standpunkt aus sehen und hören kann, fällt die Geschichte aus, die sie uns erzählt. Es handelt sich hier allerdings um eine ganz besondere Krähe, denn je nach Perspektive bekommt sie nicht nur mit, was die Personen in unserer Story tun, sondern auch, was sie denken und fühlen. Und manchmal kann sie sogar in die Zukunft schauen. Eine Zauberkrähe, sozusagen.

Die auktoriale Krähe

Wie beim neutralen Erzähler, schwebt die Krähe auch hier über dem Geschehen. Auch hier kommt sie einmal näher heran, und steigt kurz darauf, wenn sie es möchte, wieder in den Himmel auf, um nachzuschauen, was die anderen Personen machen oder was sich gerade im Weltgeschehen abspielt. Auch hier kennt die Krähe die Geschichten, Gefühle, Gedanken, Charaktereigenschaften, Ängste und Hoffnungen der Personen, von denen sie uns erzählt. Mehr noch: Sie kann sogar in deren Zukunft schauen oder Verbindungen zwischen Geschehnissen herstellen. Im Prinzip weiß sie also alles, und zwar von jedem. Und daher nennt man sie auch den allwissenden Erzähler.

Der auktoriale Krähe steht den Charakteren nicht so nah, wie das beim personalen Erzähler der Fall ist (die personale Perspektive werde ich nächstes Mal beleuchten). Und trotzdem kann sie sich auch auf die Schulter einer Figur setzten und aus deren Sicht erzählen. Tut sie das überwiegend, kann es manchmal sogar schwerfallen, den auktorialen vom personalen Erzähler zu unterscheiden.

Auch mit der neutralen Perspektive hat die auktoriale Perspektive viel gemeinsam. Beide wissen über alle Figuren genau Bescheid und können sehen, was anderswo gerade passiert. Wo der neutrale Erzähler jedoch (seinem Namen gerecht werdend) neutral bleibt und nicht erkennbar in Erscheinung tritt, hat der auktoriale Erzähler durchaus eine eigene Meinung und tut diese mitunter kund. Er wertet, beurteilt, hofft und bangt, er gibt gut gemeinten Rat oder verurteilt Missetaten. Er gibt uns Einblicke in zukünftige Ereignisse.

Beispiel:
„Wenn ihr mich fragt, hätte sie das lieber bleiben lassen sollen.“

Stellen Sie sich den auktorialen Erzähler wie den klassischen Märchenerzähler vor. Er ist durchaus eine eigenständige Persönlichkeit mit einer eigenen Erzählstimme, also einer eigenen Art, wie er die Dinge schildert – das kann ironisch, lustig, ernst, salopp, ausschweifend etc. sein. Doch diese Stimme – das ist ganz wichtig – ist nicht die des Autors. Bei einem guten Autor variiert die Erzählstimme von Buch zu Buch – sie sollte in erster Linie der Geschichte dienlich sein.

Zoomen

Auktorial erzählte Geschichten fangen häufig aus der Ferne an und begeben sich, nachdem das Setting etabliert wurde, näher an die Protagonisten heran. Man nennt das (wie bei einer Kamera) „reinzoomen“. Geht der Erzähler wieder etwas mehr auf Distanz und beschreibt vielleicht, was bei einem Fußballspiel oder bei einer großen Schlacht vor sich geht, zoomt er wieder raus.

Wie sieht das im Detail aus? Nun, gerne fliegt die Krähe zu Anfang über dem Geschehen und erzählt uns erst einmal etwas über die Welt, in der eine Geschichte spielt. Vielleicht erfahren wir etwas über die Einwohner der Stadt unserer Protagonisten, wir lesen, wie der Rauch der Schornsteine an windfreien Tagen über der Stadt hängt, wie die Pappeln an windigen Tagen im Park beim Fluss mit ihren Blättern wedeln, wie der Bürgermeister normalerweise seinen Tag mit einem Spaziergang durch ebenjenen Park beginnt und die Frau mit dem Pelzkragen ihre drei Dackel spazieren führt. Vielleicht fängt die Geschichte sogar noch viel größer an, wie zum Beispiel hier:

„Weit draußen in den unerforschten Einöden eines total aus der Mode gekommenen Ausläufers des westlichen Spiralarms der Galaxis leuchtet unbeachtet eine kleine gelbe Sonne. Um sie kreist in einer Entfernung von ungefähr achtundneunzig Millionen Meilen ein absolut unbedeutender, kleiner blaugrüner Planet, dessen vom Affen stammende Bioformen so erstaunlich primitiv sind, daß sie Digitaluhren noch immer für eine unwahrscheinlich tolle Erfindung halten.“ (Adams, Douglas: Per Anhalter durch die Galaxis, übersetzt von Benjamin Schwarz)

Irgendwann, nachdem wir also in das größere Setting eingeführt worden sind, werden wir aber in der Regel auch unsere Protagonisten kennenlernen (im obigen Fall Arthur Dent, der noch nicht ahnt, dass sein Planet kurz vor der Demolierung durch die Vogonen steht, um Platz für eine Hyperraum-Umgehungsstraße zu schaffen). Die Krähe fliegt dazu bis kurz über den Boden hinunter, lässt sich auf der Schulter einer Person nieder (reinzoomen), und wir erfahren nun, was diese Person tun, denkt und fühlt. Jederzeit kann sich die Krähe jedoch wieder in die Lüfte erheben (rauszoomen) und untersuchen, was anderswo vor sich geht – wenn es sein muss, sogar mitten im Satz.

„Er dachte an Suse, die zur gleichen Zeit mit knurrendem Magen auf dem Dachboden in ihrer Höhle saß und sich fragte, ob sie sich runter in die Küche trauen konnte oder ob ihr Bruder immer noch Besuch hatte.“

 

Die auktoriale Perspektive erkennen

Wenn der Erzähler sich nah bei den Protagonisten befindet, die Krähe also auf der Schulter einer Person sitzt, kann die auktoriale Perspektive große Ähnlichkeit mit der personalen Perspektive besitzen, in der das Geschehen aus der Sicht einer Person geschildert wird. Sie verrät sich dann häufig aber doch durch Kleinigkeiten und unscheinbare Nebensätze.

„Beide hingen ihren Gedanken nach“ oder „sie wusste nicht, dass“ sind zum Beispiel Anzeichen dafür, dass Sie es mit einem auktorialen Erzähler zu tun haben.

Überhaupt sollte sich der Erzähler gleich zu Anfang als auktorial zu erkennen geben. Wenn der Leser nämlich von einer personal erzählten Geschichte ausgeht, sich der Erzähler jedoch auf S. 3 plötzlich mit einem Kommentar zu Wort meldet, stört das den Lesefluss doch erheblich und man wird recht abrupt aus der Geschichte gerissen, weil man damit nicht gerechnet hat.

Häufig kann der auktoriale Erzähler, wie der neutrale, fast unsichtbar werden. Dann fällt es besonders schwer, ihn vom neutralen oder manchmal auch vom personalen Erzähler zu unterscheiden. Das kann mitunter schade sein, denn der auktoriale Erzähler besitzt eine Fähigkeit, die er gerne auch nutzen darf, nämlich das Einbringen seiner Meinung. Das kann er ganz subtil tun, so dass es der Leser kaum bemerkt, oder er kann den Leser direkt ansprechen mit Sätzen wie:

„Da hat sie sich ja mal wieder ganz schön in die Nesseln gesetzt, meint Ihr nicht auch?“

Das war genug Text für einen Tag, auch wenn noch lange nicht alles zum auktorialen Erzähler gesagt ist. In Teil 2 dieser Folge erfahren Sie daher alles über die Vor- und Nachteile dieser Perspektive und wofür sie am besten geeignet ist. Und natürlich gibt es wieder einen Beispieltext, der in der auktorialen Perspektive geschrieben ist.

Kategorien: Kreatives Schreiben

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