Im ersten Teil dieser Mini-Reihe haben wir uns einige Fallen beim Schreiben angesehen, in die wir vor allem als Schreibanfänger zu gerne tappen, wenn es um das Einhalten der Erzählperspektive geht. Doch im Bereich der Perspektive lauern noch mehr Gefahren, mit denen wir uns heute befassen wollen.

Ich empfehle Ihnen, mit dem ersten Teil dieser Minireihe anzufangen und sich noch einmal mit der Krähe als Erzählerin vertraut zu machen.

Das Problem mit der Wahrnehmung

Sie haben beim letzten Mal erfahren, dass die Krähe in der personalen Perspektive nur über Dinge berichten kann, die sie auch wirklich erlebt und die sie sehen kann. Und dass sie bei Ihrem POV-Charakter zumindest so lange sitzen bleiben sollte, bis die Szene beendet ist.

Illustration einer Ratte von hinten

Heute gehen wir zu einem anderen Problem über, nämlich dem der Selbst- und Fremdwahrnehmung. Denn häufig berichtet die Krähe versehentlich über Dinge, die sie im Normalfall gar nicht bemerken würde, entweder, weil sie den Protagonisten auf dessen Schulter oder in dessen Kopf nicht wirklich von außen sehen kann, oder aber, weil sie mit ihrer intimen Sicht einfach eine andere Wahrnehmung der Situation haben muss. Auch heute habe ich die Beispiele wieder in verschiedene Kategorien unterteilt.

Gar nicht gemerkt

Dinge, die der Protagonist nicht bemerkt und nicht im Kopf hat, können wir in der personalen Perspektive auch nicht erzählen.

Annika vergaß vollkommen, dass sie eigentlich Hausaufgaben machen musste, und lief zu Pipis Villa hinüber.

Das ist falsch, denn: Wie kann sie uns davon berichten, wenn sie es doch vergessen hat? Perspektivfehler!

Ebenso sieht es hier aus:

Annika bemerkte nicht, wie die Zeit verstrich.

Wenn sie es nicht bemerkt, dann kann sie (oder die Krähe) es uns auch nicht erzählen. Sie kann höchstens hinterher feststellen, dass es ja schon 5 Uhr ist, und sich darüber wundern, wie schnell die Zeit vergangen ist.

Annika ahnte nicht, dass die Räuber hinter der Ecke auf sie warteten.

Schön und gut, aber wie kann sie uns dann davon berichten? Dinge, die die Krähe auf der Schulter des Protagonisten nicht wahrnimmt, nicht denkt, nicht bemerkt, müssen leider unerwähnt bleiben. Anders sieht es in der auktorialen Erzählweise aus. Hier können solche Sätze durchaus vorkommen.

Merken Sie sich also: Was die Krähe nicht bemerkt, kann sie uns auch nicht erzählen.

Selbstwahrnehmung

Innensicht und Außensicht unterscheiden sich. Wir selbst nehmen uns anders wahr, als andere Menschen das tun. Ein Beispiel:

Das Mädchen hopste vergnügt von einem Stein zum anderen (POV Annika).

Hier sehe ich gleich mehrere Probleme.

Fangen wir mit dem Mädchen an. Was meinen Sie: Würde Annika sich selbst als „das Mädchen“ bezeichnen, wenn sie von sich berichtet? Wohl kaum. Sie würde „ich“ sagen. Und die Krähe, die auf ihrer Schulter sitzt und mit Annika eng verbunden ist, würde „sie“ verwenden.

Auch das Wort „hopste“ zeigt unsere Außensicht. Erwachsene bezeichnen die Sprünge von Kindern als hopsen. Annika selbst würde vermutlich sagen, dass sie springt. Und mit „vergnügt“ verhält es sich ähnlich.

Annika sah ihn mit vor Angst geweiteten Augen an. (POV Annika)

Sehr schön, denken Sie jetzt vielleicht. Das ist “Show, don’t tell”. Wunderbar!
Jein. Wenn Sie den gleichen Satz über Tommy schreiben, würde ich Ihnen recht geben. Aber Annika sieht sich selbst ja gar nicht. Sie nimmt sicher gar nicht wahr, dass ihre Augen geweitet sind. Vielleicht bemerkt sie, wie sich ihr Magen zusammenzieht oder wie ihr Herz vor Angst laut pocht. Aber ihre Augen sieht sie nicht.

Ich steckte mir die blonden Haare hinter die Ohren. (POV Annika)

Da haben wir ganz beiläufig und ohne Beschreibung gezeigt, dass Annika blonde Haare hat. Zu schön? Ja, schon. Aber leider ist auch das genau genommen ein Perspektivfehler. Denn Annika würde niemals an ihre „blonden“ Haare denken, sondern einfach nur an ihre Haare.

Merken Sie sich also: Wir nehmen uns anders wahr, als andere das tun. Die Krähe vertritt den Standpunkt des POV-Charakters.

Wahrnehmung anderer

Wie sieht aber unser Protagonist die anderen Menschen? Sie ahnen es sicher: Auch hier gibt es die ein oder andere Stolperfalle.

Annikas starke Freundin sagte: „Buh!“ (POV Annika)

Annika würde aber an ihre Freundin nicht als „meine starke Freundin“ denken. Nein, in ihren Gedanken würde sie das Mädchen von nebenan beim Namen nennen, nämlich so:

Pipi sagte: „Buh!“ (POV Annika)

Können Sie im nächsten Satz ein Problem erkennen?

Ihr Vater war heute Morgen früh aus dem Haus gegangen. (POV Annika)

Na, haben Sie den Fehler entdeckt? Richtig, Annika würde wohl eher „Papa“ denken als „mein Vater“. Diesen kleinen Perspektivfehler würde ich übrigens trotzdem durchgehen lassen. Aber spätestens bei einer Ich-Erzählung sollten Sie dringend auf „Papa“ umschwenken.

Merken Sie sich also: Überlegen Sie, wie Ihr POV-Charakter andere Menschen sieht.

Wahrnehmung durch andere

Zu guter Letzt nimmt Ihre Protagonistin nicht nur ihre Umwelt wahr, sondern sie wird auch von anderen wahrgenommen. Die Frage ist nur, ob sie wissen kann, wie die anderen innerlich auf sie reagieren? Schauen wir uns wieder ein paar Beispiele an.

Tommy war beeindruckt. „Gut gemacht“, sagte er. (POV Annika)

Tommy kann vielleicht beeindruckt aussehen. Und seine Worte zeigen ja auch, dass er das vermutlich ist. Und doch weiß Annika das nicht mit Sicherheit. Und deshalb dürfen wir es auch auf diese Weise nicht schreiben. (Siehe auch Abschnitt „Im Kopf des anderen“).

Für das letzte Beispiel wechsele ich einmal in Pipis Perspektive, weil es so schön passt:

Die Einbrecher hatten Angst vor mir. (POV Pipi)

Das darf uns Pipis Krähe nicht erzählen. Denn das kann sie nicht wissen. Sie kann es erahnen, kann uns davon berichten, wie die Einbrecher schreiend weglaufen oder zitternd vor ihr stehen. Aber mit solcher Gewissheit behaupten, dass die beiden Schurken Angst haben, das darf sie streng genommen nicht.

Merken Sie sich also: Ihr POV-Charakter weiß nicht, wie andere Menschen ihn wahrnehmen.

Und schließlich …

„Streng genommen“ ist übrigens ein gutes Stichwort. Nicht alle Perspektivfehler sind gleich schlimm und manchmal darf man auch einmal ein Auge zudrücken. Mal „ihre Mutter“ zu schreiben erachte ich nicht unbedingt als großes No-Go. Zumal man durchaus aus unterschiedlichen Distanzen erzählen kann. Achten Sie aber grundsätzlich darauf, dass Sie nichts behaupten, was für den POV-Träger nicht mindestens zu erahnen ist. „[Nicht-POV] dachte …“ ist ist auch mit zwei zugedrückten Augen nicht mehr vertretbar.

Bevor ich diese Mini-Reihe über Perspektivfehler beende, möchte ich beim nächsten Mal noch eine kleine Frage beantworten: Wie können wir trotz drittpersonaler oder Ich-Perspektive über Dinge schreiben, die anderswo stattfinden – und das, ohne die Perspektive zu brechen? Sie können ja schon einmal Ideen sammeln.

Und zum Abschluss ein kleiner Test für Sie: Vielleicht haben Sie sich vor dem Lesen dieser beiden Artikel gefragt, wo der Fehler in dem Satz der Überschrift liegt: „Sie rannten, so schnell sie konnten“ (POV Annika). Können Sie sich die Frage inzwischen selbst beantworten? Ich freue mich auf Ihre Antwort in den Kommentaren.

Kategorien: Kreatives Schreiben

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