Wir haben uns in den letzten Beiträgen die gängigen Erzählperspektiven angesehen, wie den auktorialen oder allwissenden Erzähler, den Ich-Erzähler oder den drittpersonalen Erzähler. Ungewöhnlicher wurde es im vorigen Beitrag mit dem Du-Erzähler. Aber Letzterer ist nicht die einzige Möglichkeit, einmal von der Norm abzuweichen. Schauen wir uns heute daher ein paar weitere Beispiele für ungewöhnliche Erzählperspektiven an.

Die Wir-Perspektive

„Wir lagen vor Madagaskar und hatten die Pest an Bord.“ Sie kennen sicher das alte Seemannslied. Hier wird im Wir erzählt. Es ist durchgängig von „wir“ und „uns“ die Rede, außer als der Lange Hein das faulige Wasser trinkt und daran stirbt.

Was im Lied funktioniert, ist auch im Roman möglich. Julie Otsuka hat es beispielsweise in ihrem Buch Wovon wir träumten vorgemacht.

Illustration einer Ratte von hinten
Ratten-Fakt

Einige Rattenarten bauen runde Nester in Bäumen.

Kniffelig ist die Wir-Perspektive auf jeden Fall. Schauen wir uns noch einmal das Seemannslied an. Wer erzählt es uns eigentlich? Sind es die Seeleute als Gruppe? Oder ist es nur einer der Seemänner, der als Teil der Gruppe das Geschehen schildert? Häufig spricht ein Ich-Erzähler immer wieder einmal im Wir, z. B. bei Situationen, die er mit anderen zusammen erlebt. Streng genommen dürfen wir jedoch nur von einer Wir-Perspektive sprechen, wenn das Geschehen wirklich von der Gruppe erzählt wird, nicht von einem Einzelnen.

Dabei kommt allerdings als nächstes die Frage auf, wer denn in dem Wir überhaupt inbegriffen ist. Vielleicht soll sich ja auch die Leserin als Teil der Gruppe angesprochen fühlen, die das Geschehene miterlebt. In diesem Fall hat das Wir große Ähnlichkeit mit der Du-Perspektive.

Und dann fragt man sich natürlich auch, ob so eine Wir-Perspektive überhaupt realistisch sein kann. Denn es müssten ja durchgängig alle Mitglieder der erzählenden Gruppe das gleiche erleben, tun und denken. Oder doch nicht?

Auch wenn „wir“ vor Madagaskar lagen, so war es doch der Lange Hein, der als Erster gestorben ist. Wir anderen haben ihn dann beerdigt. Es ist also durchaus möglich und sogar ratsam, sich beim Schreiben in dieser Perspektive nicht ständig auf das Wir zu konzentrieren. Das ermüdet die Leser recht schnell, denn die Identifikation mit dem Wir fällt unter Umständen schwer. Stattdessen können Sie auch hier die Handlung schildern, die sich außerhalb des Wir (oder vielleicht auch innerhalb dessen) abspielt. Je seltener das Wort „Wir“ tatsächlich vorkommt, desto leichter machen Sie es Ihren Leserinnen.

Vielleicht möchten Sie auch – wie bei der Du-Perspektive – nur einzelne Passagen oder Kapitel im Wir schreiben. Sinnvoll ist auf jeden Fall, wenn die Lesenden sich darüber im Klaren sind, wer „wir“ überhaupt ist.

Die Nachteile dieser Perspektive liegen auf der Hand: Diese (wie auch die folgenden Erzählweisen) sind für uns ungewohnt und mögen Leser (und Verlage) abschrecken. Auch fällt mitunter die Identifikation mit einer Gruppe von Erzählern der Leserin schwer. Auf jeden Fall schafft diese Perspektive Distanz. Und natürlich eignet sie sich im Normalfall nicht, wenn wenn wir über das Schicksal einzelner Personen berichten möchten.

Gut geeignet ist diese Erzählweise hingegen, wenn Sie Erfahrungen und Prozesse innerhalb einer Gruppe darstellen wollen oder wenn ein Gruppengefühl entstehen soll. In ihrem Bestseller Zonenkinder beschäftigt sich Jana Hensel mit ihrer Kindheit in der DRR. Das Wir passt hier, denn sicherlich werden viele Leserinnen, die in der ehemaligen DDR aufgewachsen sind, sich in ihrer Erzählung wiederfinden können. Wir hören außerdem immer wieder, wie stark das Wir-Gefühl damals in der DDR war – und genau das spiegelt Jana Hensel mit ihrer Erzählweise wider.

Der allwissende Ich-Erzähler

Der allwissende Erzähler spricht gewöhnlich in der dritten Person Singular zu uns. Spricht die Erzählerin in der Ich-Form, gehen wir davon aus, dass sie als reale Person auf ihre eigenen Gedanken, Gefühle und Wahrnehmungen beschränkt ist. Die erzählende Protagonistin kann dem Leser normalerweise also nur das berichten, was sie selbst erlebt, hört oder fühlt.

Was aber, wenn der Ich-Erzähler doch mehr weiß, als er eigentlich sollte? Wenn er in die Köpfe der anderen hinein oder in die Zukunft schaut? Realistischerweise dürfte er das nur können, wenn er zum Beispiel ein Gott oder ein Superheld ist. Oder, wie in Markus Zusaks Roman Die Bücherdiebin, der Tod selbst.

Trotzdem ist mir auch schon eine allwissende Ich-Erzählerin untergekommen, die eigentlich ein ganz normaler Mensch war, und zwar in Jasper Ffordes Thursday-Next-Reihe (z. B. Der Fall Jane Eyre). Ganz überzeugt war ich davon nicht. Aber vielleicht können Sie es ja besser! 

Ungewöhnliche Erzähler

Geschichten aus der Perspektive von Tieren kennen wir ja spätestens seit Glennkill oder der Mrs. Murphy-Reihe von Rita Mae Brown und ihrer vierbeinigen Co-Autorin Sneaky Pie Brown. Aber wie wäre es denn mal mit einem Buch, das von einem Gegenstand erzählt wird? Zum Beispiel einem Stuhl oder einer Zimmerpflanze, die das Geschehen beobachten? Oder einer alten Eiche, die seit Hunderten von Jahren Zeugin der Ereignisse um sie herum ist? Ähnliches ist zwar sicher schon geschrieben worden, aber es gibt noch so viele weitere Möglichkeiten!

Wenn Sie einen solch ungewöhnlichen Erzähler verwenden, wäre es schön, wenn aus der Erzählstimme heraus klar wird, wo die Möglichkeiten, Grenzen und Eigenarten dieses Erzählers liegen. Die Frau im Bild an der Wand kann z. B. nicht (oder nur aus dem Augenwinkel) sehen, wenn zwei sich küssende Menschen an ebendieser Wand lehnen. Und wenn sie im 17. Jh. gelebt hat, wird sie durchaus ihre eigene Meinung zu den sich küssenden Unverheirateten haben.  

Oder wie wäre es denn mal mit einem abstrakten Erzähler wie der Zeit, der Liebe oder der Freiheit?

Durchgängiger Deep POV

Im Deep POV („Tiefer“ POV, wobei POV für Point of View steht, also: Erzählperspektive) wird die Erzählerin unsichtbar. Ziel dieser Perspektive ist es, der Leserin zu ermöglichen, so nah und unmittelbar wie möglich das Geschehen mitzuerleben und ganz in das Erleben einzutauchen. Dabei muss der Erzähler voll und ganz im Kopf des Protagonisten sitzen und wirklich nur berichten, was dieser sieht, fühlt und wahrnimmt. Auf jegliche Zusammenfassung und Kommentierung wird verzichtet. So zum Beispiel auch auf Gedanken, die die Protagonistin so nicht denken würde („Was soll ich jetzt bloß tun?“ oder „Sie wusste, dass es nur der Wind war, der dieses unheimliche Geräusch machte.“) Stattdessen muss sich die Autorin ganz genau in den Protagonisten einfühlen und eindenken. Was ginge in dieser Situation wirklich im Kopf meines Protas vor sich?

Ein Beispiel für Deep POV wäre zum Beispiel folgende Passage:

„Es klingelt. Sicher wieder die blöde Frau Meyer. Ich schlurfe genervt zur Tür und öffne. Ein blonder Mann in einem speckigen, schwarzen Anzug grinst mich an.“

Viele Autoren greifen an spannungsreichen Stellen ihrer Erzählung automatisch auf den Deep POV zurück. Das lässt die Leserinnen das Geschehen direkter wahrnehmen. An anderen Stellen ist es jedoch in der Regel sinnvoll, auch einmal etwas zusammenzufassen.

Wie aber wäre es, wenn Sie ein gesamtes Buch im Deep POV schreiben würden? Sie wären nicht die Erste, die es wagt, aber ungewöhnlich ist eine solche Perspektive noch immer.

Dem Deep POV werde ich übrigens demnächst einen ganzen Beitrag widmen.

Sie sehen also: Ihrer Fantasie sind keine Grenzen gesetzt. Alles ist möglich und, wenn Sie es geschickt anstellen, durchaus auch interessant zu lesen. Auffallen wird Ihr Buch damit auf jeden Fall. Allerdings sind all diese Perspektiven sicher nicht für die ersten Schreiberfahrungen zu empfehlen. Arbeiten Sie sich erst einmal mit einfacheren Perspektiven ins Schreiben ein. Lernen Sie, die Perspektive einzuhalten, üben Sie Show, don’t Tell, realistische Dialoge und andere wichtige Fertigkeiten. Später, wenn die Basics sitzen, spricht nichts dagegen, sich auch einmal an ungewöhnliche Erzählperspektiven wie die oben beschriebenen zu wagen.

Kategorien: Kreatives Schreiben

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